Lieber Kodjovi
Seit sechs Monaten bist Du 'Artiste in Résidence' im Village des Arts de Dakar. Ich habe Dich im Frühling, anlässlich der Biennale de Dakar kennengelernt. Du warst glücklich, dem provinziellen Lome entkommen zu sein, wo Deine Familie Dir zu nah war. Die Kunstmetropole Dakar war eine Verheissung. Du freutest Dich auf den Austausch mit den vielen anderen Künstlern im Village. Eine ungeheure Schaffensphase begann. Deine Kreativität explodierte. Vom angestammten Umfeld befreit tratst Du heftiger denn je in Dialog mit Deiner Tradition.
Dein plastisches Werk nimmt Formelemente vom Webrollenhalter bis zum anthropomorph gestalteten Mörserstampfer auf. Deine Skulpturen zeigen von Initiationsnarben übersäte Menschen, Masken und Götter in neuem Licht, traditionsgemäss aus hartem Holz gestaltet, doch von den Zeichen der Eisenzeit gefesselt. Und wo die einen Ketten zerrissen sind, zeigen andere, längst mit dem Körper verwachsene, dass Freiheit gewaltsam, im Aufstand nicht zu gewinnen ist. Die Eisenteile, sagst Du, sind die Geister. Wir bleiben immer gebunden, verbunden, vernetzt in grösseren Zusammenhängen. Aber die Kunst öffnet uns die Augen dafür.
Deine Bilder – eine grossformatige Serie von Collagen in Mischtechnik, Relief und Assemblage – nehmen eine andere Traditionslinie auf; jene des irregulären Ornaments, das durch die Bogolan-Textilien aus Mali, die bestickten Raffia-Geflechte der Kuba aus Kongo und die Fassadenmalereien der südafrikanischen Ndebele weltweit als Symbol afrikanischer Ästhetik bekannt wurde. Du trittst in Dialog mit dem was war, um Aktualität zu gestalten; und das ist vor allem Verstrickung in unübersichtliche Muster. Du drückst sie so überzeugend aus, weil Du sie durchlitten hast. Denn der Austausch mit den anderen Künstlern im Village des Arts de Dakar blieb aus. Je stärker Deine Werke strahlten, desto mehr wurden die anderen Künstler von ihrer Missgunst in die Defensive gedrängt. Du hast Dein Material geheiratet, sagst Du. Es sind Arbeiten, deren Wirkung ich mich nicht entziehen kann. Ein Kunstwerk, sagst Du, ist ein Objekt mit einer Seele.
Damit greifst Du weit zurück, in die Zeit vor dem grossen Kunstraub der Kolonialisten in Afrika. Damals standen die Statuen in Palästen, Tempeln und Schreinen und niemand zweifelte daran, dass sie eine Seele haben. Dann wurden sie plötzlich eingesammelt, verschifft und auf die Völkerkundemuseen Europas verteilt. «Les statues meurent aussi» („Die Statuen sterben auch“) heisst der Film, den Chris Marker und Alain Resnais 1953 zu diesem Thema vorlegten. Auftraggeberin war die französische Zeitschrift «Présence Africaine». «Les statues meurent aussi» wurde lange nur in stark zensierter Form veröffentlicht. Erstmals wurde der Film 1968 in voller
Länge gezeigt. Im Vorspann heisst es:
«Wenn Menschen sterben, gehen sie in die Geschichte ein. Wenn Statuen sterben, werden sie Kunst.»
Lieber Kodjovi, Du greifst vor diese Zeit zurück und erweckst die Statuen zum Leben. Aber man sieht ihnen noch an, dass sie tot gewesen sind. Sie suchen noch nach ihren Tempeln und Palästen. Sie finden sich noch nicht zurecht.
Das Wissen um dieses ‘Stirb und werde’ der afrikanischen Plastik müsste heute auch in die Debatte um die Rückgabe afrikanischer Kunstwerke von europäischen Museen an die Herkunftsländer einfliessen. Denn zu Kunstwerken mit Marktwert sind die – meist aus rituellen Kontexten herausgerissenen – Objekte erst in Europa geworden. Nun aber fassen europäische Museen eine Rückgabe nur unter der Bedingung ins Auge, dass die Herkunftsländer ihrerseits entsprechende Museen bereitstellen.
Vielleicht sollten wir deinen Skulpturen stattdessen einen Schrein bauen; und jenen anderen, aus Europa zurückkehrenden auch.
Herzlich
Jürg
November 2018